Tagesspiegel: Das frühe Ende der Kindheit
von Barbara Junge
Hoch wandert der Zipper am Reißverschluss des braunen Kapuzenpullis. Und wieder runter. Und wieder hoch. Moritz kann seine kleinen Hände nicht stillhalten. „Hör doch damit auf, Moritz“, drängt seine Mutter. Das Gezappel macht sie ganz verrückt. Aber der Zwölfjährige steht unter Spannung. Das schmale Gesicht unter den braunen Haaren schaut nicht zur Mutter auf. Die rechte Hand wandert vom Zipper zu dem Kugelschreiber, der vor dem Jungen auf einem Holztisch liegt. Und der Daumen klickt.Und klickt und klickt.
Die Mutter weint jetzt fast. Mit der älteren Schwester war das in der Schule doch nie ein Problem. Und jetzt sitzen sie hier. Vater, Mutter, Kind bei Swantje Goldbach im Lernwerk, in einer Steglitzer Villa. Sie hoffen auf Rat, auf Hilfe: Moritz ist zwölf und geht in die sechste Klasse. Der Schulwechsel steht bevor. Eigentlich sollte er auf ein grundständiges Gymnasium, wie die Schwester. „Wir sind alles Akademiker“, drückt die Mutter hervor. „Was anderes als das Gymnasium kommt für uns nicht in Frage“, stellt der Vater klar.
Statt im Gebüsch zu stöbern, folgen schon Kleinkinder einem strengen Zeitplan
An der gesellschaftlichen Positionierung der Sprösslinge, so scheint es mitunter, entscheidet sich heute das Schicksal der Eltern. Die Schulwahl wie die Freizeitgestaltung geraten dabei zum Kampf um die Ressourcen der Zukunft. Für manche Mutter wird der bevorstehende Mathetest zum globalen Krisengipfel. Und wenn der Junge beim Fußballtraining mal wieder weint, anstatt den Ball beherzt ins Tor zu donnern, zweifelt der ambitionierte Vater zuerst am Trainer, dann am Erziehungskonzept. Und schließlich am eigenen Kind.
Früher war nicht alles besser. Aber was wir Eltern mittlerweile mit ihrem Nachwuchs veranstalten – von Frühenglisch bis zum Vierjährigen-Kung-Fu – dient wohl mehr der Selbstberuhigung einer verunsicherten Nach-68er-Generation als der Förderung der Kinder. Statt selbstvergessen im Gebüsch zu stöbern, folgen schon Kleinkinder einem strengen Zeitplan. Die Verunsicherung der Eltern in der globalisierten Gesellschaft versetzt manch ein Kind in einen Spannungszustand, in dem die Kindheit sicher nicht mehr die Kindheit sein kann, wie sie die Eltern in den sozial sichereren Zeiten der 70er und 80er Jahre erlebt haben. Und nirgends wirkt sich der Druck so stark aus wie in der Schule – dem Sprungbrett in die Arbeitswelt. Doch nicht alle Kinder verkraften den steigenden Druck.
Moritz geben die Lehrer nur eine Realschulempfehlung für die Gesamtschule. Und jetzt wird geübt, jeden Nachmittag. Der Vater soll ja schließlich nicht enttäuscht werden. Und der Junge reagiert auf die Hoffnungen seiner Eltern. Klassenarbeit für Klassenarbeit bringt er schlechtere Noten nach Hause. Das Lernwerk, eine Nachhilfeschule der etwas anderen Art, soll’s nun richten.
Schulreformen, Leistungsdefizite - die Debatte versetzt manche Familien geradezu in Panik
Die bevorstehende Schulreform könnte gerade solchen Kindern wie Moritz zu Gute kommen. Zielt sie ja auf eine Stärkung des gemeinsamen Lernens aller Kinder. Aber jetzt melden viele Eltern ihre Bedenken an: Auf die neue Sekundarschule mit Kindern, die heute überwiegend Realschul- oder Hauptschulempfehlung hätten, soll das Kind später vielleicht besser doch nicht gehen. Den Trend, den Bildungsexperten seit Jahren beobachten, wird die Berliner Schulreform so nicht stoppen können: Der Druck auf Kinder nimmt zu, den Sprung auf’s Gymnasium zu schaffen.
Am traditionsreichen Canisius-Kolleg am Tiergarten haben sich in diesem Jahr 370 Eltern bemüht, einen Platz für ihr Kind zu sichern, bei 90 zu vergebenden Plätzen. Die hohe Bewerberzahl führt Rektor Pater Klaus Mertes zu Teilen auch auf die Verunsicherung der Eltern vor der Schulreform zurück; für Gymnasien wird die BVG-Regel entfallen, das Losverfahren bringt eine größere Ungewissheit ins Spiel. Auch die Quereinstiegsanfragen nehmen beim Canisius zu. Die Pisa-Debatte, geplante Reformen, Meldungen über hohen Lehrerausfall oder die Schulzeitverkürzung versetzen manche Familien geradezu in Panik. Wenn ein Lehrer mal zwei oder drei Wochen krank sei, sagt der Rektor, hätten manche schon fast Angst, ihr Kind habe schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Und die Kinder? „Die spüren den Druck. Sie internalisieren ihn.“
So wie Kristina, 12. Das blonde Mädchen geht nicht mehr zur Grundschule, schließlich lernt ja auch der ältere Bruder an einem grundständigen Gymnasium. „Sie war ohnehin nicht glücklich in ihrer Klasse“, sagt der Vater. Die Lehrer waren zwar nicht ganz überzeugt, dass trotz passabler Noten der Wechsel das richtige für Kristina wäre. Im ersten Halbjahr der fünften Klasse schien die Idee aber aufzugehen. Dann kam die erste Fünf in Mathe. „Dabei hat uns auch ihr Lehrer gesagt, dass unsere Tochter gar nicht so schlecht in Mathe ist“, nur bei den Klassenarbeiten war sie irgendwie blockiert. Also hat sich Mama mit an die Hausaufgaben gesetzt. Das stille Mädchen war ja noch klein. Geholfen hat das wenig. Nach einem halben Jahr wollte Kristina wieder runter von der Schule. Kein Nachmittag verging ohne Geschrei rund um das Thema Schule. Nachhilfe sowieso. Besonders schmerzhaft war für die Mutter als Kristina eines Tages sagte: „Du bist bestimmt enttäuscht von mir.“ Die Eltern sind ratlos.
Oft richten die Schüler die Gewalt gegen sich selbst
Eltern sollten den Rat der Lehrer annehmen, empfiehlt Klaus Seifried vom Berufsverband deutscher Psychologen. „Die schulische Leistungsfähigkeit können die Lehrer nach zwei oder auch vier Jahren mit dem Kind gut einschätzen“, sagt der Schulpsychologe. Zwar sei es durchaus richtig, dass Eltern auch eigene Erwartungen haben und Ziele formulieren, „aber man kann sich auch viel Kummer machen und das Kind überfordern“.
Der wachsende Druck auf die Kleinen nimmt nach Seifrieds Erfahrung Jahr für Jahr zu. Der Trend sei in Großstädten besonders stark und hier noch einmal verstärkt in gutbürgerlichen Bezirken. Die Übergangszahlen auf’s Gymnasium in Charlottenburg-Wilmersdorf mit 55 bis 60 Prozent oder Pankow, Treptow-Köpenick und Steglitz-Zehlendorf mit 50 bis 55 Prozent liegen weit über dem Bundesdurchschnitt. Dabei ist das Gymnasium, zumal das grundständige, zwar für diejenigen Schüler die richtige Schulreform, die das Lernpensum quasi ohne Anstrengung meistern. Doch insbesondere nach vier Grundschuljahren sind diese Schüler eher eine Minderheit.
Bei Seifried kommen dann die Kinder an, die der Überforderung nicht standhalten können. Er kennt sie, die Prüfungspanik der 14-Jährigen, die Schulängste, die massiven Konflikte zwischen Eltern und ihren Kindern, die Verhaltensauffälligkeiten. Die Frage ist nicht, ob die Kinder den Druck in Aggression ummünzen; die Frage ist nur noch, gegen wen sie die Gewalt richten. Häufig gegen sich selbst.
Mark ist kein Problemschüler. Im denkmalgeschützten Klinkerbau der Arkona-Schule in Mitte, in der Rosenthaler Vorstadt, dort wohin in den vergangenen Jahren immer mehr bildungsnahe Eltern auch aus Westdeutschland gezogen sind, gehört er jetzt zu den Ältesten. Ein typischer Zwölfjähriger, schon in der Pubertät, nur Fußball im Kopf, ein cooler Sechsklässler. Mark fühlt sich wohl in der Montessori-orientierten Schule. Noch vor einem Jahr war der Junge sehr unglücklich. Hochbegabt, auf dem Zeugnis nur Einsen, der Weg in ein grundständiges Gymnasium war für die Eltern keine Frage. Angekommen ist Mark im Gymnasium nie. Er war da, ja. Noten kein Problem, die Lehrer zufrieden. Nur Mark hatte ein Problem. Er fühlte sich allein, fremd. Er hatte Sehnsucht nach der alten Schule.
"Was ist mit unserem Kind los?"
Zum Glück für das Kind hat er Eltern, die ihr Kind lesen wollen, die sich Rat bei der Leiterin der Arkona-Schule und seiner ehemaligen Lehrerin holten. Nach zwei Probetagen in der alten Klasse war auch Mark wieder der alte. Heute lernt er mit seinen Freunden, die nicht nur Einsen schreiben, und im Herbst geht’s im Rudel in die siebte Klasse an die Oberschule. Jetzt ist Mark reif für’s Gymnasium.
Denn Noten sind nicht das allein entscheidende, betont die Leiterin der Arkona-Schule, Monika Große. Selbstverantwortliches Lernen ist eine wichtige Voraussetzung. Und der Frontalunterricht stresst so manches Kind, „das braucht Reifezeit“. Aber oft entscheiden die Eltern, sagt Große, gegen die Empfehlungen der Klassenlehrer. Gerade in Mitte spüre man den Zuzug aus Westdeutschland. Die Eltern von dort kennen es nicht anders, als dass es nach der vierten Klasse auf die weiterführende Schule geht. „Und das entwickelt oft Sogwirkung.“ In diesem Jahr verlassen 19 von 102 Viertklässlern die Schule in Richtung grundständiges Gymnasium. Das sind immerhin 18,63 Prozent. Im vergangenen Jahr waren es 6 Kinder, umgerechnet 8,45 Prozent. Eine ganze Klasse ist jetzt durch den vorzeitigen Wechsel weggebrochen.
Marc hat seine Reifezeit bekommen. Felix braucht sie noch, wie künftig vermutlich viele Früheingeschulte, insbesondere Jung. Felix ist in der Schuleingangsstufe in der zweiten Klasse. Und nach dem Willen der Lehrerin soll er da auch noch ein Jahr bleiben. „Was ist mit unserem Kind los“, wollten die verzweifelten Eltern wissen, die bei Swantje Goldbach im Lernwerk vorstellig wurden. Der Junge rechnet nur zählend, da helfen die kleinen Finger nach, seine Schreibschrift ist eckig. Rechenschwäche und Lese-Rechtschreibschwäche, gleich beides wurden ihm attestiert. Was Goldbach wütend macht. „Felix ist einfach noch nicht reif.“ Der Junge, ein Novemberkind, wurde mit fünfeinhalb eingeschult, vom Zahnwechsel war der heute Siebenjährige damals noch weit entfernt. Und die Mama hat mit ihm geübt und die Oma hat mit ihm geübt. Und alles wurde immer schlechter. Das ständige Bauchweh, die dicken Tränen am Morgen…
Für alle Eltern, die ihr Kind mit fünfeinhalb einschulen müssen, hat Goldbach einen Tipp: „Lassen Sie ein Kind im Stand das rechte Knie bis zur Taille hochziehen, dann soll es die linke Hand auf das Knie legen.“ Wenn das noch nicht klappe, solle man dem Kind einfach seine Zeit geben. Pater Mertes meint hingegen alle Eltern, wenn er sagt: „Schule nicht zu ernst nehmen, damit Schule gelingen kann.“
(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 05.07.2009)