Morgenpost: Büffeln für die Nachprüfung.
Nachsitzen in den Ferien
Mittwoch, 14. Juli 2010 - Von Nina Trentmann
Sie hatte gehofft, bis zur Zeugniskonferenz. Dass der Französischlehrer ihr vielleicht doch eine 4- gibt, obwohl sie genau wusste, wie schlecht ihre Leistungen im zweiten Halbjahr waren. Doch Nastassia Tikhnovetskaja bekam auch in Französisch eine 5, die dritte auf ihrem Zeugnis. Mathe: 5, Physik: 5, Französisch: 5.
Das sind drei Hauptfächer, in denen die 14-Jährige ungenügende Leistungen erbracht hat. Mit drei Fünfen wird Nastassia nicht versetzt, es sei denn, sie besteht in der ersten Woche des neuen Schuljahres eine Nachprüfung. "Ich will nicht sitzen bleiben. Da opfere ich lieber meine Ferien", sagt die Neuntklässlerin aus Wilmersdorf.
Deshalb geht Nastassia nun vier Wochen lang ins Lernwerk an der Fechnerstraße. Jeden Tag hat sie 90 Minuten Einzelunterricht - während ihre Freunde im Spanienurlaub sind, im Park in der Sonne liegen oder abends feiern gehen. "Das ist natürlich bitter", sagt sie und lächelt, "aber ich habe es mir ja selbst eingebrockt." Außer Nastassia bekommen noch fünf weitere Kinder im Lernwerk den Crashkursus. "Allein in meiner Klasse machen sechs Leute eine Nachprüfung", sagt sie. Nastassia muss versuchen, aus der 5 in Mathe eine 4 zu machen, damit die anderen beiden Fünfen ausgeglichen werden können. In diesem Fall bekäme ihr Zeugnis, auf dem bislang "nicht versetzt" steht, einen Anhang, in dem die erfolgreich absolvierte Nachprüfung und die Versetzung in die 10. Klasse der Marie-Curie-Oberschule eingetragen wird.
Der Satz des Pythagoras
Bis dahin hat Nastassia noch viel zu wiederholen: binomische Formeln, Wurzelberechnung, den Satz des Pythagoras. "Da muss ich mich Stück für Stück ranarbeiten", sagt sie. Dafür hat ihr Thomas Reinert eine Technik zum schnellen Lernen mit Karteikarten beigebracht. "Das ist richtig viel Stoff, den wir wiederholen müssen", sagt der Leiter des Lernwerks Wilmersdorf. Den hat Nastassias Mathelehrerin nach der Zulassung zur Nachprüfung festgelegt. "Manche Lehrer machen da sehr konkrete Vorgaben. Das ist für uns Nachhilfelehrer natürlich sehr hilfreich", sagt Eva Hahn, die elf Schülerhilfe-Filialen in Berlin leitet. Anhand der Vorkenntnisse des Schülers legt sie einen Lernplan fest. "Ich merke meist ganz schnell, ob ein Schüler mitmacht oder nicht", sagt Thomas Reinert vom Lernwerk. Ähnliche Erfahrungen hat auch Eva Hahn gemacht: "Wer sich wirklich hinsetzt, der schafft es auch." Neben dem Unterricht gibt es bei der Schülerhilfe Hausaufgaben, nachmittags können die Schüler ihre Zeit selbst einteilen. Eva Hahn akzeptiert nur Nachprüflinge, die mindestens drei Wochen Unterricht nehmen, "sonst ist das gar nicht zu schaffen". Zwei Wochen vor Ende der Ferien klingeln bei den Nachhilfeeinrichtungen trotzdem die Telefone: "Dann muss es hopp-hopp gehen. Viele Eltern gehen mit zu hohen Erwartungen an diese Prüfung - und viel zu kurzfristig", sagt Brigitte Burchardt, Leiterin der Diesterweg-Schule in Mitte. In einer Woche lasse sich der Stoff eines Halbjahres nicht wiederholen. Burchardt hält zum kommenden Schuljahr 15 Nachprüfungen ab. Höchstens ein Drittel der Schüler besteht, schätzt sie. "Die Erfolgsquoten sind gering. Damit überfordert man viele Kinder."
Beim Lernwerk schaffen mehr als 90 Prozent der Kinder nach dem Ferientraining die Prüfung. Die Kombination aus Erklären, Auswendiglernen und Stresstraining reicht oftmals aus, um aus der 5 eine 4 zu machen - das aber nur, wenn die Lehrer ein Kind bestehen lassen wollen, sagt Thomas Reinert. "Bei manchen weiß man vorher, dass das schwierig wird." Alles kann der Nachhilfelehrer nicht ausbügeln - vor allem, wenn das Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer vorbelastet ist, wie das von Nastassia und ihrer Mathelehrerin: "Ich habe mich schon mehrfach mit ihr angelegt. Die 5 war verdient", sagt Nastassia.
Testlauf mit mündlicher Prüfung
Die Nachprüfung besteht aus einer schriftlichen Klausur und einer mündlichen Prüfung. Die mündliche Prüfung dauert an der Diesterweg-Schule 45 Minuten, in manchen Fächern wie Chemie nur 25 Minuten. Zwei Fachlehrer und der Schulleiter sitzen dem Prüfling gegenüber - eine Situation, die viele Schüler noch nie erlebt haben. Das macht natürlich nervös. Deshalb gibt es im Lernwerk eine Woche vorher einen Testlauf mit Klausur und mündlicher Prüfung. Wenn die Prüfung bestanden ist, schlagen die Pädagogen dauerhafte Nachhilfe vor, damit das Kind nicht im kommenden Schuljahr erneut um die Versetzung bangen muss. "Das muss man langfristig angehen", sagt Eva Hahn von der Schülerhilfe. "Wenn das Kind versetzt wird, hat es ja trotzdem enorme Probleme in dem Fach." Oftmals kündigt sich die 5 in Mathe lange vorher an. Ahmed, der ebenfalls im Lernwerk Wilmersdorf in den Ferien lernt, hat schon das zweite Schuljahr in Folge seine Fünfen - und keine Nachhilfe. "Ich war komplett raus", sagt der 17-Jährige. Nastassia hatte ebenfalls noch nie Nachhilfe. "Viele Kinder erzählen ihren Eltern nicht von ihren schlechten Noten", sagt Thomas Reinert. Nastassia hatte wohl mit ihrer Mutter gesprochen, "doch die dachte, ich packe das". Weil ihre Mutter einen Kosmetiksalon betreibt und wenig Zeit hat, muss sich Nastassia um viele Dinge selbst kümmern - auch um ihre Hausaufgaben. "Ich habe sehr viel Freiheit gehabt und bin damit nicht richtig umgegangen." Es klingt ein wenig reuevoll. "Ich bin ja nicht doof. Dass ich jetzt nicht versetzt werde... das geht gar nicht." In vielen Fächern - Geschichte, Deutsch, Musik - hat sie gute Noten. Jetzt ermahnt die Oma ihre Enkelin, kontrolliert sogar die Hausaufgaben.
Nach Angaben der Gewerkschaft Erziehung und Bildung (GEW) in Berlin darf ein Kind in den Klassen 7, 8 und 9 nur einmal eine Nachprüfung absolvieren. Zum Schuljahr 2008 wurden 1198 Nachprüfungen an Berliner Schulen abgenommen, 550 Schüler fielen dabei durch. Seitdem werden diese Zahlen nicht mehr erhoben. "Es ist eine doppelte Niederlage, wenn ein Kind durchfällt", sagt Brigitte Burchardt von der Diesterweg-Schule. Gerade deshalb ist die richtige Motivation wichtig: "Du musst dir immer sagen: "Ich schaffe die Nachprüfung", sagt Thomas Reinert zu seiner Schülerin. Nastassia lächelt. Sie glaubt an sich.