Blog 06.05.2014

Turbo-Abitur und warum ich gegen G8 bin

In wie vielen Jahren sollen Gymnasiasten ihr Abitur erreichen? In 8 oder 9 Jahren? Soll die vor noch nicht einmal einem Jahrzehnt eingeführte Verkürzung der Gymnasialzeit wieder rückgängig gemacht werden? In Berlin wird noch heftig gestritten, während Bundesländer wie Bayern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg in Sachen G 8 versus G 9 schon zurückgerudert sind. Niedersachsen wird ab nächstem Sommer regulär zurückkehren zum Abitur nach 13 Jahren Schulzeit. Das Argument: Die zeitliche und psychische Entlastung der Schüler. Im Tagesspiegel vom 04.04.2014 hat der Bildungsforscher Wilfried Bos das Turbo-Abitur verteidigt. 

Meine Schüler, deren Eltern und ich selbst wünschen sich eine Abkehr vom Geschwindigkeitswahn. Denn besonders bei uns in Berlin muss man bedenken, dass wir zusätzlich die Früheinschulung haben. Also: Erzwungene „Kann“-Kinder müssen Schnellläufer werden. Das dies nicht ohne Stress und oftmals mit psychischen Problemen einhergeht, muss jedem klar sein, auch wenn man nicht aus der Praxis kommt. Herr Bos widerspricht mir und sagt, dass in Studien kein gesteigertes Stressempfinden von Schülern durch G8 auszumachen ist. Davon abgesehen, dass in der Studie Birnen mit Äpfeln verglichen wurden, wäre es natürlich toll, wenn eine höhere Stundenzahl mit mehr Lernstoff nicht zu mehr Stress führen würde! Die Lebenserfahrung spricht dagegen. Vielleicht ist hier der Wunsch der Vater des Gedankens. Und das ist das Grundübel von G8: Man möchte dem Arbeitsmarkt und insgeheim auch der Rentenanstalt mit den eingedampften Jahrgängen schneller zu Nachschub verhelfen. Doch das ist verkehrt: Wir können die Entwicklung junger Menschen nicht per Amtsdekret beschleunigen. Ich bezweifele, dass G8 inklusive Früheinschulung  quasi als schneller Brüter reife Erwachsene produziert. Ja: Zeit ist kostbar - vor allem für den, dem man sie stiehlt.

Für Kinder, die viel Sport machen möchten oder ein Instrument lernen, hat Herr Bos eine einfache Lösung: Diese sollten nicht ein normales Gymnasium besuchen. Da möchte ich sehr energisch protestieren. Im Gegenteil: Wer am Gymnasium ist und viel lernen muss, sollte viel Sport machen und selbstverständlich soll jeder Sportler oder Schüler, der viel Bewegung benötigt, auch zum Gymnasium gehen dürfen, wenn er möchte. Nicht umsonst propagieren wir Sport und anderen seelischen Ausgleich seit Jahren im Lernwerk als wichtige Möglichkeit der Schüler, das in der Schule und zu Hause Gelernte zu verdauen und unterstützen Sportvereine wie die Alba-Jugend.

Nun sagt Herr Bos, es sei umgekehrt, man nehme den Schülern durch ein 13. Jahr ohne Wissenszuwachs ein Jahr ihres Lebens weg. Ich setze entgegen, es ist ein Trugschluss zu glauben, Kinder und Teenager reiften nur in der Schulzeit. Auch die Erlebnisse in ihrer Freizeit, beim Mannschaftssport, im Orchester oder beim Abhängen im Café lassen sie heranwachsen. Das sollte man nicht vergessen. Auch die Erfahrungen eines Austauschjahres, die G8 zunichte macht. Und übrigens: Eine reine Ausprägung über den Intellekt wäre weder wünschenswert noch hilfreich. Die Gesellschaft und die Wirtschaft braucht Menschen, die über Rechenformeln und Grafiken hinaus scharf denken und frei entscheiden können. Menschen, die in der Schulzeit Raum hatten, sich zu fragen, wer sie sind, was sie können und wie sie dieses Wissen um sich selbst in eine erfolgreiche Berufskarriere umwandeln wollen. Daher freue ich mich, dass bei vielen meiner Eltern ein Umdenken stattgefunden hat. Bessere Leistung und die Noten eines Kindes sind aus dem Fokus gerückt. Stattdessen wünschen sie sich ein vertiefteres Lernen ihrer Kinder und mehr Zeit mit ihnen!