Blog 12.04.2016

Schulreife – einschulen ja oder nein?

Ich war in Stuttgart bei guten Freunden von mir. Beim Kaffeetrinken kam das Thema auf, was eigentlich das selbstständige Anziehen einer Jacke mit der Schulreife zu tun hat. Die Diskussion entbrannte durch eine Mutter, weil eine Kindergärtnerin abgeraten hatte, ihren Kai dieses Jahr schon zur Schule zu geben, da er sich nicht allein die Jacke anziehen könne.

Wenn ich privat unterwegs bin, ducke ich mich normalerweise bei Schulthemen weg, aber ich fühlte die echte Ratlosigkeit.

Es ist gar nicht leicht zu verstehen, was anders daran sein soll, in den Kindergarten zu gehen oder die Schule zu besuchen und was Schulreife von Intelligenz unterscheidet. Kai ist intelligent, er spricht sehr gut, weiß viel für sein Alter – warum also sollte er noch ein Jahr im Kindergarten „vertrödeln“, nur weil er sich nicht anziehen kann? Um in der Schule zurecht zu kommen, braucht man Selbstständigkeit und man muss auf Aufforderung reagieren. Das heißt, wenn der Lehrer sagt, dass man sein blaues Deutschheft, die Federtasche sowie sein Hausaufgabenheft herausholen möge, so hat das Kind in der Schule Erfolg, das dies pronto erledigt. Kai würde zuschauen, was die anderen tun, das sehe ich ihm schon beim Kuchenessen an. Niemand wird ihm in der Deutschstunde beim Öffnen der Schultasche behilflich sein, niemand ihm in der Pause die Jacke anziehen. Kai kann die Kuchenstücke zählen, aber er gibt nicht gern eins ab, teilen kann er noch nicht. In der Schule muss man sich melden, kommt vielleicht nicht dran, obwohl man es genau weiß! Man ist einer von vielen. Beim schulreifen Kind erwacht die Rationalität, es bemerkt, dass es nicht immer an der Reihe sein kann. Ein schulreifes Kind versteht Aufforderungen nur über das Ohr und setzt sie um, es handelt nicht nach dem Lustprinzip, sondern kann sich gegen sich selbst (einen Moment) durchsetzen. Es fängt an, selbstständig zu sein. Alle Klugheit würde Kai nichts nützen, er würde angetrieben, gemaßregelt und gedämpft werden und schließlich enttäuscht von der Schule sein, denn er ist nicht schulreif.

Vorsichtig versuche ich meine Meinung am Kaffeetisch in Worte zu fassen – dass die Kindergärtnerin Recht hat. Viele von Kais Freunden werden jetzt zur Schule kommen. Was nach Langeweile aussieht, bietet ihm eine Chance, einmal der Große zu sein. Er könnte ja zusätzlich einen Mannschaftssport beginnen. Ein Jahr später hat er die besten Chancen in der Schule zu genügen. Bis dahin sollte er mit selbstständig lösbaren Aufgaben seine Anstrengungsbereitschaft trainieren und viel spielen!

„Ja, wenn du das so erklärst, versteh ich die Sache mit der Jacke“, sagt Kais Mutter, „das musst du mal für andere Eltern aufschreiben…“